Hätte sich Peter Zadek Ende der fünfziger Jahre nicht dazu entschlossen, aus London, wohin er 1933 mit den Eltern emigriert war, nach Deutschland zurückzukommen, wer weiß, die deutsche Theaterlandschaft sähe heute vielleicht noch trauriger aus, als sie es ohnehin schon ist.
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Peter Zadeks Inszenierungen in Ulm, Bremen, Hamburg, Berlin haben entscheidend dazu beigetragen, das deutsche Theater zu entmiefen, mehr Leben und Wahrhaftigkeit auf die Bühne zu bringen und viele Besucher von ihren schöngeistigen Blähungen zu befreien, von denen sie, sobald sie einen der „Musentempel“ betraten, befallen wurden.
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Der Zukunftsschwank „Ab jetzt“ zeigt diese Welt: Der Mensch holt sich per Video-Monitor die vermeintliche Wirklichkeit ins Haus. Doch wie im Dialog immer etwas offen bleibt, so greifen auch in der Wahrnehmung gemeinte und gegebene Wirklichkeit nicht fugenlos ineinander. Die Assimilation von Mensch und Technik – ein anderer und wichtiger Punkt – führt Zadek mit seiner Inszenierung ad absurdum. Die Maschine hat den Menschen überholt! Glaubte man noch früher, daß sich aus dieser Assimilation produktive Möglichkeiten schöpfen ließen, so stolpert der 'Künstler' Jerome hilflos durch eine Welt des ästhetischen Scheins. Der Zuschauer mittendrin. Durch die Schema-Brüche gelingt es Zadek, Unterscheidungsfähigkeit zu bewahren. Und das bei einem Konsumprodukt, wie es das Boulevard-Theater nun einmal ist. Die gesendeten 'Botschaften', genauer: das, was „Ab jetzt“ aufzeigt – Anti-Künstler-Genie, Roboter, feministische Bürgerwehr, Sexualität – vermag der Zuschauer, in positive Anreize aufzulösen. Verzerrungen auf der Bühne, Spiegelungen und ähnliches bedeuten indes gar keine Sinnestäuschung, denn wir beziehen ohne weiteres die Wahrnehmungsumstände mit ein, und sie lassen in solchen Fällen genau das erwarten, was wir sehen. Auch Illusionen haben es mit einer allgemeinen zugänglichen Wirklichkeit zu tun, sie sind erzeugbar und – darauf kommt es an – aber auch unter Umständen vermeidbar.
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Da Menschen sich verändern, verändert sich alles um sie. Wer am Zuschauer vorbeispielt, hat ausgespielt! Die Leute gehen ins Theater, um sich zu unterhalten, um sich zu erheben, um eventuell weinen zu können oder um irgend etwas zu erfahren.
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Indem Zadek die Kultur demokratisiert, gefährdet er – ganz bewußt und mit einem Lächeln – den Status der Kultur-Elite. Daran hat er Spaß, tief drückt er den Stachel ins von Selbstgefälligkeit, Heuchelei und einer bis zur Langeweile polierten Ästhetik fett und schlaff gewordene Fleisch.
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Peter Zadek irritiert, provoziert und schockiert. Das Unerwartete in seinen Inszenierungen zwingt das Publikum, sich bewußt dafür zu entscheiden, was es denkt. Anti-bürgerliches, anti-elitäres und anti-langweiliges Theater macht der Regisseur, um es lebendig zu halten, um es zu retten. Seine Theater-Ästhetik macht vor dem Boulevard nicht halt, darf es auch gar nicht, denn Zadek will das Massen-Publikum. „Theater ist Kommunikation zwischen Publikum und Schauspielern, Kontakt, Berührung, Spannung, gemeinsames Erlebnis, gemeinsame Reise ins Ungewisse.“ Das klingt so selbstverständlich, und doch ruft es nörgelnde Kultur-Kritiker auf den Plan, weil Zadek dabei unterhält. Unterhaltung aber ist nichts für Leute, die ihre Sinnlichkeit unterdrücken, die vorurteilsvoll das Theater der Massen und somit die Massenkultur ablehnen. Scheinbar unverrückbare Normen des Ästhetischen, derer sie sich bedienen, verhindern eine Analyse der Unterhaltung. Stattdessen wird sofort negiert. Ästhetische Differenzierungen, die ausschließlich Prädikate wie 'gut' und 'schlecht' kennen, sind aber unbrauchbar geworden. Genauso unsinnig ist es, der Unterhaltung als Antithese Information gegenüberzustellen. Es liegt hier kein echtes Gegensatzpaar vor.
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Natürlich ist Zadek nicht nur der Entertainer für die Kneipenbesucher, sondern der Theater-Star für das Bildungsbürgertum. Das lockte er durch seine „Ab jetzt“-Inszenierung sogar ins Privat-Theater. Jenes will beim Magier Zadek, der nicht nur eine untrügliche Witterung für Wahrnehmungen hat, sondern auch für die trivialen Aspekte, Wunder erleben, sich überraschen lassen und alle Erwartungen enttäuscht sehen. Da Peter Zadek es in der Tat vermag, Theater für alle zu machen, revolutioniert er das Theater. Und was man unter einer Theater-Revolution zu verstehen hat, ist klar: Doch wohl eine Art, Theater zu spielen, wie sie bis zu einem bestimmten Punkt nicht für möglich gehalten wurde, sei es, weil man sie für wirkungslos, sei es, weil man sie für sinnlos, für politisch, moralisch und geschmacklich unerträglich hielt. Kurz, eine Theater-Revolution ist der gelungene Versuch, etwas durchzusetzen, von dem man glaubt, es sei ohne Wirkung auf die Zuschauer, von dem sich aber herausstellt, daß die Wirkung nicht ausbleibt, ja, sich oft zu Ausmaßen steigert, die man vordem auf dem Theater nicht erlebt hat. Denn Theater hat mit Menschen zu tun – mit Menschen als Zuschauern, mit Menschen als Darstellern, als Autoren, als Regisseuren. Und da Menschen sich verändern, verändert sich alles um sie.
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